Fiona McGovern
Von Kerben und Näthen
erschienen in der Texte zur Kunst anlässlich der Ausstellung seams & notches
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Als die Künstlerin Lin May 2003 den Ausstellungsraum Center in der Kurfürstenstraße eröffnete, war die Wiederbelebung der in den 1920er Jahren und zu Vorwendezeiten in Schöneberg existenten KünstlerInnen- und Galerieszene noch nicht abzusehen. Inzwischen tummeln sich hier Neulinge wie altbekannte Protagonisten des Kunststandorts Berlin gleichermaßen. Dabei macht sich an einigen Orten durchaus eine selbstkritische Reflexion und ein historisches Bewusstsein gegenüber dieser (Zurück-)Verlagerung der Kunstszene in den Westen bemerkbar, was sich etwa anhand einer Reihe von Screenings und Vorträgen im Salon Populaire als auch bei reception zeigt, deren Galeristin Christine Heidemann über die Jahre eine umfangreiche Materialsammlung zur Geschichte des Bezirks und seinen zentralen Figuren zusammengetragen hat. In diesem Sommer nun lieferten dieses Archiv von historischen Fotos und ortsbezogenen Texten den Anstoß für die Gruppenausstellung seams & notchesvon Flo Gaertner, Heiko Karn, Katrin Mayer und Eske Schlüters, für die das Umfeld der Galerie dezidiert zum thematischen Ausgangspunkt wurde. Das jüngste Zusammenspiel dieser vier immer wieder in unterschiedlichen Konstellationen zusammenarbeitenden KünstlerInnen zeichnet sich besonders durch eine subtile Intervention in den laufenden Galeriebetrieb aus, die neben Eingriffen in das Layout des Newsletters eine neue Erfahrbarkeit der Räume und zugleich ein reflexives Verhältnis von Innen- und Außenraum anstrebt.
Wer die Galerie betritt, sieht sich als erstes mit einer veränderten Wegeführung konfrontiert, die sich an Motiven des Blockierens und Durchbrechens orientiert. Heiko Karns Arbeiten etwa greifen in der Umgebung der Galerie beobachtbare Phänomene von Zugangs- und Blickversperrungen auf, die im Zuge der momentanen urbanen Transformationsprozesse an Virulenz erhalten. Die Nutzung bei gleichzeitiger Abriegelung der Brachfläche am Gleisdreieck für die diesjährige Fashion Week bildet ein eindrückliches Beispiel hierfür. So gewähren seine Collagen Schöneberger Morgen #1 (2010) lediglich durch gucklochartig Ausschnitte in den schwarzen Passepartouts Einblicke in die dahinter liegenden Fotos der Gegend oder Auszügen aus der Nachbarschaftszeitung, während seine zentral positionierte, aus schwarz gestrichenen Zaunsegmenten, Vorhängen, Regalen und Absperrgittern zusammengesetzte Assemblage Schöneberger Morgen #2 (2010) den breiten Durchgang zwischen beiden Ausstellungsräumen explizit physisch verstellt. Der Besucher wird dadurch umgeleitet in den schmalen Durchgang auf der rechten Seite, der üblicherweise mit einem Tablar für die Newsletter und Folder der Galerie verschlossen ist. Diesen Um-Weg greift auch Katrin Mayers an der Decke der vorderen Räume angebrachte, auf dem Grundriss der Architektur basierende Textilarbeit Clothed, Reception (2010) auf, die schon im Titel durch die phonetische Nähe von „clothed“ und „closed“ spielerisch auf die veränderte Galeriesituation hinweist. Der zunächst die gesamte Breite des vorderen Raumes abdeckende Stoffverlauf leitet den Besucher über den Durchgang zum hinteren Teil der Galerie, in denen Eske Schlüters Video phantom ride (2010) projiziert wird und Flo Gaertners grafische Papierarbeit Plan (2010) an den Wänden plakatiert ist. Das namensgebende Element der Galerie – die Rezeption – wurde in den hinteren Flur verschoben, wodurch dem visuellen wie formalen Zusammenspiel der einzelnen Arbeiten der Vorrang vor ihrer Vermittlung und der Zuschreibung von Autorschaft gewährt wird.
Scheint Clothed, Reception durch seine regelmäßige, wellenartige Hängung im vorderen Raum der Form einer Markise - einem Element aus dem Außenraum - entlehnt, wird sie im hinteren Raum durch die in Falten gehängten und weich herunterfallenden Bahnen vielmehr in ihrer Stofflichkeit selbst betont, die nun eher an Dekor in Festsälen erinnert. Gleichzeitig entsteht ein zusätzlicher Raum im Raum. Hierbei konfrontiert Mayer in der Wahl des Stoffmusters die augenscheinliche Referenz auf Daniel Burens institutionskritische Streifenarbeiten mit der Bezugnahme auf Streifen als Mittel der Marginalisierung,_1 in dem sie in einem Titelzusatz als Inspiration ihrer Arbeit den von 1930 bis zur Machtübernahme der Nazis 1933 in Schöneberg lebenden Schriftsteller Christopher Isherwood erwähnt. Darüber stellt sie zudem eine Verbindung zur frühen queeren Partykultur in Schöneberg her, die Isherwood in seinen Berlin Storys als einer der ersten thematisierte und die später für das Musical Cabaret(1966) adaptiert wurden. Der Streifenstoff wird so Träger verschiedener Einschreibungen, die sich abhängig vom jeweiligen Betrachterstandpunkt und angestoßen durch die mitgelieferten Stichworte stetig verschieben und überlagern. In Gänze zum Vorschein tritt diese komplexe Verweisstruktur vorrangig formaler Analogien daher erst, nachdem die zusätzlichen Angaben gelesen wurden, also auf dem Rückweg von der Rezeption in die vorderen Ausstellungsräume. Ohne jedoch eine eindeutige Lesart vorzugeben, verschränkt sich die zeitgenössische Erfahrung von Mayers dezidiert ortsspezifischer Arbeit über diesen erneuten ‚Umweg‘ mit dem historischen Wissen um die Gegend und ihre Protagonisten.
Motive des Vermessens wie das der Bewegung im Raum finden sich auch in Eske Schlüters Video phantom ride wieder: eine auf den atmosphärischen Ausdruck von Einzelbildern abzielende Montage aus verschiedenen Berlinspezifischen Filmen, darunter die in der Nähe der Galerie gedrehte Verfilmung von Christiane F. - Wir Kinder von Bahnhof Zoo (1981) und das Stricherjungenporträt Das Ende des Regenbogens (1979). Die dazwischen und darüber gelegten Vektorgrafiken, die dem Schnittprogramm Final Cut entliehen sind, werden hier zum visuellen Stilmittel, die die Bewegungsabläufe der einzelnen Personen im Raum wieder aufgreifen und zugleich die Stop-Motion Ästhetik des Films bedingen. Über dieses bewusste Offenlegen grafischer Entwurfshilfen lässt sich wiederum eine Brücke schlagen zu Flo Gaertners Intervention in das übliche Layout des Newsletters. Statt eines Textes und biographischen Angaben der KünstlerInnen – diese wurden auf einen losen Einlegezettel verschoben – enthalten die Blätter in ihrer „re-arrangierten“ Form verschiedene Varianten von unbeschriebenem Millimeterpapier, das außerdem en bloc an den Wänden plakatiert ist. Darüber gewinnt dessen Struktur zum einen an ornamentalem Ausdruck und stellt zum anderen gerade die Fläche der gerasterten, räumlichen Einschreibung selbst aus.
Ohne eine eindeutige Lesart des Gesamtzusammenhangs vorzugeben, ermöglicht dieses sensible räumliche Gefüge der einzelnen Arbeiten sowohl diskursive als auch formale Verbindungslinien zwischen ihnen herzustellen, die sich über Motive und Techniken des Zeigens, Vermessens, Versperrens oder Umlenkens verfolgen lassen. Der Titel, zu dt. Nähte und Kerben, ist folglich programmatisch zu verstehen und bezieht sich sowohl auf die verwendeten Materialien als auch auf die Art und Weise der künstlerischen Interventionen. Thema von seams & notchesist demnach nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit dem Format der Gruppenausstellung selbst – ohne, dass die beteiligten KünstlerInnen jedoch dezidiert über die Konventionen einer Galerieausstellung hinausgehen und wie in früheren gemeinsamen Ausstellungsprojekten durchaus geschehen,_2 den Schritt in die kollektive Autorschaft vollziehen.
Eine Erweiterung und zugleich explizite Verlagerung der Ausstellung in den öffentlichen Raum erfuhr seams & notches über einen in Kooperation mit Salon Populaire veranstalteten Spaziergang durch die Nachbarschaft der Galerie. Dieser für kommerzielle Ausstellungskontexte eher ungewöhnlichen Parcours bestand aus verschiedenen Stationen wie der Brachfläche am Gleisdreieck, dem zunehmend verwaisenden Club 90° oder dem Ausstellungsraum Center sowie kurzen literarischen Lesungen mit Texten Isherwoods und Auszügen aus Curt Morecks Führer durch das „lasterhafte“ Berlin von 1931. So wurden viele der Quellen offengelegt und Szenerien betrachtet, die zwar für die Konzeption der Ausstellung grundlegend waren, jedoch nicht in einem derart wortwörtlichen Sinn in ihr in Erscheinung traten. Vielmehr fungierten diese Einblicke als Ergänzung zur Rezeptionssituation in der Galerie und werfen darüber nicht zuletzt die grundlegende Frage danach auf, in welchem Abhängigkeitsverhältnis die stark formal operierenden Arbeiten der vier KünstlerInnen zu solchen Versuchen der Bedeutungskonstituierung stehen. Die Ausstellung versucht weder eine Genealogie aufzuzeigen, noch bezieht sie dezidiert Stellung zu den städtebaulichen Veränderungen der Gegend. Gelenkt durch das Display eröffnet sie ein Möglichkeitsfeld an Erfahrungen und Verweisen, innerhalb dessen sich der Betrachter je nach Wissensstand wiederum frei bewegen kann.
Anmerkungen
1_Vgl. Hanne Loreck: Mode als Zeichnung im Raum – Streiflichter. In: Ausst.-Kat. fake or feint. Berlin: 2010, S.91-105.
2_Vgl. To Show is to Preserve. figures and demonstrations. A group project by Martin Beck, Eva Birkenstock, Joerg Franzbecker, Max Hinderer, Heiko Karn, Hannes Loichinger, Katrin Mayer and Eske Schlüters. Halle für Kunst , Lüneburg, 27.September -18. November 2008.